Warum spielt der Mensch Bridge?

(aus Ulrich Auhagen: Das große Buch vom Bridge,
1973 Keysersche Verlagsbuchhandlung GmbH München)


Diese Frage ist für den Bridge-Spieler im ersten Augenblick überraschend, vielleicht sogar unbequem; denn er denkt kaum darüber nach, warum er Bridge spielt - er tut es einfach. Im Kern geht es um die grundsätzliche Frage, welche Bedeutung das Spiel an sich für den Menschen hat.

Johan Huizinga ("Homo ludens, vom Ursprung der Kultur im Spiel", Leiden 1938) gibt eine umfassende Definition des Spiels: Es ist eine freie Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig akzeptierten, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird und hierbei den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann; es ist Selbstzweck und hat ein selbstgestecktes Ziel, nämlich in bestimmter Form etwas fertigzubringen, was die Lösung einer Spannung bewirkt. Was vollbracht werden muss und was damit gewonnen werden kann, interessiert erst in zweiter Linie. Das Spiel steht außerhalb des gewöhnlichen Lebensverlaufes; es kann den Spieler gleichsam mit einem "Geheimnis" umgeben und ist geeignet, die Gruppe der Spieler zu besonderen Gemeinschaften zusammenzuschließen, die das Bewusstsein des "Anders-Seins" als das "gewöhnliche Leben" haben.

Charakteristisch für das Spiel ist – wie Huizinga zu Recht betont -, dass das Spiel eine "eingeschobene Handlung" ist, die sich vom gewöhnlichen Leben durch seinen Platz und seine Dauer absondert. Die Spielplätze - also auch der Kartentisch oder die Arena eines großen Bridge-Turniers - sind zeitweilige Welten Innerhalb der gewöhnlichen Welt, die zur Ausführung einer in sich abgeschlossenen Handlung dienen. Das Spiel ist also nicht das "gewöhnliche" oder das "eigentliche" Leben; es Ist vielmehr das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz. Es steht außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden, ja, es unterbricht diesen Prozess sogar. Innerhalb seiner Welt herrscht eine eigene und unbedingte Ordnung. "Gegenüber den Regeln eines Spiels ist kein Skeptizismus möglich." (Paul Valéry, franz. Dichter 1871 – 1945) ln der Sphäre des Spiels haben die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung. Es schafft durch räumliche und zeitliche Abgrenzung sowie bindende Regeln Ordnung und bringt in die unvollkommene Welt und in das verworrene Leben eine zeitweilige begrenzte Vollkommenheit, die ästhetisch wirken kann.

Huizinga weist darauf hin, dass das Spannungselement - Ungewissheit, Chance, Kampf - eine wichtige Rolle spielt. Der Spieler strebt nach Auflösung des Spannungszustandes: "Ihm muss etwas glücken." Es werden seine Fähigkeiten auf die Probe gestellt, mit Geschicklichkeit, Mut, Findigkeit, Ausdauer und Anspannen von körperlichen und geistigen Kräften unter Einhaltung der vom Spiel vorgeschriebenen Schranken des Erlaubten zu gewinnen. Das Spielergebnis ist als objektive Tatsache gleichgültig; es hat Bedeutung nur für diejenigen, die sich als aktiv Mitwirkende oder als Zuschauer in die Spielsphäre hineinbegeben.

Wie steht es damit, ob Spiel und Ernst Gegensätze sind? Friedrich Georg Jünger ("Die Spiele – ein Schlüssel zu ihrer Bedeutung", Frankfurt 1953) verneint dies mit dem Hinweis, dass das Spiel oft ernsthafter ausgeübt wird als sog. ernstliche Arbeiten und Geschäfte, insbesondere je mehr diese mit Unlust betrieben werden. Jünger meint, das Spiel lediglich gegen zweckmäßiges Handeln abgrenzen zu können. Während dieses eine Kombination von Bewegungen ist, die auf ein Ziel bezogen sind, das weiter als die Kombination selbst reicht, genügt das Spiel sich selbst und ist nicht an einen über seine Grenzen und Regeln hinaus reichenden Zweck gebunden.

Huizinga leugnet ebenfalls den Gegensatz von Spiel und Ernst und gibt hierzu eine einleuchtende Abgrenzung: Beim Begriffspaar Spiel - Ernst sind die beiden Termini nicht einander gleichwertig. Ernst ist sozusagen Nichtspiel und nichts anderes; sein Bedeutungsinhalt ist mit der Negation von Spiel bestimmt und erschöpft. Spiel hingegen ist etwas Eigenes. Der Begriff "Spiel" als solcher ist höherer Ordnung als der des Ernstes; denn der Ernst sucht das Spiel auszuschließen, während das Spiel sehr wohl den Ernst in sich einschließen kann.

Ähnlich beurteilt Sigmund Freud (Gesammelte Werke VII 214), der Begründer der Psychoanalyse, ein spielendes Kind. Es schafft sich seine eigene Welt bzw. versetzt die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung. Es nimmt sein Spiel sehr ernst und verwendet große Affektbeträge darauf. Der Gegensatz zum Spiel ist nicht Ernst, sondern - Wirklichkeit.

Kann man von einem sog. Spieltrieb sprechen? Obwohl es sich hier um einen landläufigen Begriff der Umgangssprache handelt, verneint die Wissenschaft die Existenz eines speziellen Spieltriebes. Nach Freud gibt es nur zwei einander entgegengesetzte Urtriebe, nämlich Eros und Todestrieb. Freud hält nichts davon, selbständige Untergruppen von Trieben zu schaffen, indem man nach dem Objekt, das sich der Trieb gesucht hat, hier also dem Spiel, einen neuen, eigenen Trieb benennt (Gesammelte Werke X 216).

Auch Jünger lehnt einen sog. Spieltrieb ab; denn das Zurückführen eines Verhaltens auf einen Trieb, um dann wieder mit Hilfe dieses Triebes das Verhalten zu "erklären", sei nicht viel mehr als Humbug. Wenn man Bewegungen auf einen Trieb zurückführt und durch den Trieb wieder diese Bewegungen zu erklären versucht, kommt es zu Tautologien.

Huizinga schließt sich Leo Frobenius (Kulturgeschichte Afrikas, 1953) an, der die allzu billige Erklärung verwirft, mit dem Einschalten eines Begriffes "Spieltrieb" als eines angeborenen Instinkts habe man genug getan. Die Instinkte wären - so Frobenius - eine Erfindung der Hilflosigkeit gegenüber dem Sinn der Wirklichkeit.


Nach diesen grundsätzlichen Untersuchungen zur Bedeutung des Spiels an sich zurück zur Eingangsfrage, warum der Mensch Bridge spielt. Hierfür gibt es natürlich viele Erklärungen; Bridge ist ein vielseitiges Spiel und schlägt jeden seiner Anhänger auf andere Weise in seinen Bann. Zwei Hauptgruppen von Motiven lassen sich jedoch, so meine ich, heraus arbeiten: Selbstverwirklichung und menschlicher Kontakt.

Zwischen den vom Glücksfaktor unabhängigen Spielen (z. B. Schach) und den reinen Glücksspielen (z. B. Roulette) spannt sich ein weiter Bogen. Je mehr sich ein Spieler aktiv ins Spielgeschehen einschalten und es durch sein Können beeinflussen kann und will, desto eher wird er sich für ein Spiel entscheiden, bei dem der Zufall so gut wie keine Rolle spielt. Bridge gehört zu den wenigen Kartenspielen, bei denen der Glücksfaktor ziemlich ausgeschaltet ist. Beim Rubber-Bridge spielt das Kartenglück zwar eine gewisse Rolle und beim Paarturnier ist man ein wenig auf die Fehler der Gegner angewiesen, beim Teamturnier ist der Glücksfaktor jedoch so gut wie ganz verschwunden. Wer sich für Bridge entscheidet, um seine Geschicklichkeit zu beweisen, strebt nach Selbstverwirklichung. Es bereitet ihm Genuss, seine Fähigkeiten (Nervenkraft, Konzentrationsvermögen, Beherrschung der Reizung und Spieldurchführung, psychologisches Einfühlungsvermögen) einzusetzen und zu versuchen, in fairem Wettbewerb zu gewinnen.

Ein Kennzeichen unserer Zeit ist, dass die meisten von uns in einer arbeitsteiligen, überspezialisierten und entindividualisierten Berufswelt leben. Das Verlangen, etwas "Ganzes" zu schaffen - wie es etwa für den Handwerker des vorigen Jahrhunderts die Regel war -, ist für die meisten von uns unerfüllbar. Das Prinzip der übermäßigen Arbeitsteilung hat oft zur Folge, dass der Ablauf des Alltags in kleine und kleinste Arbeitselemente zerrissen wird, die ohne Zusammenhang zueinander stehen, und von denen jedes zur Vollendung eines anderen einheitlichen Ganzen dient, das der Einzelne niemals zu sehen bekommt. Hier bietet das Bridge den Anreiz eines in sich abgeschlossenen, geordneten Bereichs, in dem der Spieler - ohne störende Einflüsse von außen – auf ein für ihn überschaubares Ziel (Erfüllung eines schwierigen Kontraktes, Gewinn des Rubbers, gutes Abschneiden in einem großen Turnier) hinarbeiten kann. Ihm winkt der Erfolg und damit Selbstbestätigung, Stärkung seiner Individualität. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Bedürfnis für einen derartigen "Identitätsgewinn" in unserer heutigen Massengesellschaft immer stärker wird. Stärkung des Ego durch Leistung im Bridge? Jünger merkt kritisch an, dass dort, wo schwierige Widerstände zu überwinden sind und die Grenzen der Geschicklichkeit erreicht werden, das Spiel sich wieder in Arbeit verwandelt. Huizinga setzt sich mit dem Bridge unmittelbar auseinander und vermerkt, dass es eine Menge von Intellekt und geistiger Spannung bindet und verbraucht, die besser - aber vielleicht auch schlechter - hätten angewandt werden können. Um wirklich spielen zu können, müsse der Mensch, solange er spielt, wieder Kind sein; dies könne man von der Hingabe an ein so außerordentlich raffiniertes Scharfsinnsspiel wie Bridge aber kaum mehr behaupten.

In dieser Kritik schwingt ein wenig Wehmut mit, nämlich der Traum von der Rückkehr zur eigenen Kindheit durch das Spiel. Zur Selbstverwirklichung, zum "ldentitätsgewinn" eignen sich aber nur solche Spiele, die einen gewissen Schwierigkeitsgrad haben und bei denen durch Geschicklichkeit Widerstände zu überwinden sind. Bridge ist ein anspruchsvolles und geistig hochstehendes Spiel, das gerade bei denjenigen eine große Anhängerschaft gefunden hat, denen andere Spiele wegen zu großer Leichtigkeit zu schalen Genüssen geworden sind.

Reizvoll ist Bridge auch durch das mit dem Erfolg im Spiel verbundene Prinzip der unmittelbaren Belohnung, das im "wirklichen Leben" so oft vermisst wird. Wegen der Überspezialisierung arbeitsteiliger Prozesse fehlt im Alltag meist das fachkundige "Publikum", das gute Leistungen entsprechend würdigen könnte. Dieses Problem hat der Bridge-Spieler nicht; denn er ist von Gleichgesinnten umgeben, die sein Spiel beurteilen können. Bridge-Erfolge und deren gerechte Beurteilung durch die Mitspieler sind Lust bringend. Einen weiteren Lustgewinn hält das Bridge für den erfahrenen Spieler bereit, wenn dieser bestimmte Konstellationen in Bietprozess und Spieldurchführung wiedererkennt. Freud bezeichnet dieses Wiederfinden des Bekannten als lustvoll und spricht wegen der Ersparung an psychischem Aufwand von "Ersparungslust" (Gesammelte Werke VI 135 mit Hinweis auf Groos, "Die Spiele des Menschen", 1899).

Bridge ist also für den Spieler eine Verlockung, dem Alltagsleben zu entfliehen und sich in einen abgeschlossenen Bereich hineinzubegeben, in dem er sich aktiv betätigen und in Lust bringender Weise selbst verwirklichen kann.


Die zweite Hauptgruppe der Beweggründe, aus denen Bridge gespielt wird, ist die Suche nach menschlichem Kontakt. Bridge ist über die ganze Welt verbreitet, und wer Bridge spielt, findet in einer fremden Stadt oder in einem fremden Land schnell Anschluss. Den Älteren gibt Bridge Gelegenheit, der drohenden Vereinsamung zu entfliehen und sich "unter Menschen" zu begeben.

Neben dieser reinen Kontaktmöglichkeit ist beachtenswert, dass der Kontakt als solcher intensiver ist als bei vielen anderen Spielen. Ein Bridge-Spieler muss sich in doppelter Weise engagieren: Zum einen kann er nicht passiv auf den Eintritt oder das Ausbleiben eines glücklichen Zufalls warten, sondern muss in rasch wiederkehrender Folge Entscheidungen treffen (höher zu bieten oder nicht, einen guten Angriff zu finden, die erfolgversprechendste Spieldurchführung zu wählen etc.).

Außerdem ist der Bridge-Spieler auf seinen Partner angewiesen, mit dem er sozusagen in einem Boot sitzt. Erfolg oder Misserfolg hängen In nicht zu unterschätzendem Maße von der Harmonie der Partnerschaft ab. Jeder Bridge-Spieler befindet sich sozusagen "auf dem Präsentierteller". Die von ihm zu treffenden Entscheidungen sind häufig schwierig und setzen ihn einem gewissen Druck aus; auch ist es nicht immer leicht, eine ungetrübte partnerschaftliche Harmonie zu halten. Der Spieler muss beweisen, dass er Haltung am Bridge-Tisch bewahren kann. Der besondere Kontakt des Bridge-Spiels besteht darin, dass Regungen und Gefühle freigesetzt werden und durch dieses Medium der menschliche Charakter in oft verblüffender Weise transparent wird. Die Spieler befinden sich sozusagen in einem psychologischen Spannungsfeld; wer jeweils im Blickpunkt seiner Mitspieler steht, hat Anlass, sich zu bewähren. Bismarck soll einmal sinngemäß gesagt haben: "Willst Du den Charakter eines Menschen kennenlernen, so brauchst Du nur eine Viertelstunde Karten mit ihm zu spielen." Selbstverständlich kann sich diese treffende Bemerkung noch nicht auf Bridge bezogen haben; hätte es das Spiel damals schon gegeben, wäre seine spezifische Eignung zur "Durchleuchtung" der Mitspieler Bismarck wohl kaum entgangen.

Bridge wird oft die "Erotik des Alters" genannt. Dies ist gut beobachtet, weil die reine Erotik dem älteren Menschen oft nicht mehr so viel Spannungszustände vermitteln kann wie der durch Bridge hergestellte besondere Kontakt.

Obwohl die Begegnungen am Bridge-Tisch ein Anknüpfungspunkt dafür sein können, auch im eigentlichen Leben persönliche Bindungen herzustellen, bleibt der Kontakt doch im allgemeinen auf das Spiel begrenzt. Bridge-Spieler finden zueinander, weil sie sozusagen die gleiche Sprache sprechen. Darüber hinaus beschäftigen sie sich jedoch bei ihrem Spiel so gut wie gar nicht mit den privaten Problemen der Mitspieler. Dieses Phänomen ist Psychoanalytikern, die das Verhalten von Gruppen beobachtet haben, nichts Neues. Eine Gruppe von Menschen - und hierzu gehören auch die Bridge-Spieler, die sich zu einer Rubber-Bridge-Partie oder auf einem Turnier treffen - kommt in der Regel zusammen, um eine bestimmte Tätigkeit auszuüben. Damit wird ein wichtiger Zweck erfüllt: Er gibt den Gruppenmitgliedern einen Anlass, zusammenzukommen und - nicht zu persönliche - Kontakte anzuknüpfen und zu pflegen. Hierbei kommt es zu emotionalen "lnteraktionen" (beim Bridge z. B. zum Spiel gegeneinander und zur anschließenden Diskussion), ohne dass man sich auf rein privater Ebene stärker als gewünscht miteinander beschäftigen muss. Die Analyse des Verhaltens von Gruppen hat gezeigt, dass das spezielle Tätigkeitsfeld der Gruppe als ein Schutzschild dient, um einen zu engen persönlichen Kontakt zu anderen Gruppenmitgliedern "abzublocken". (Aus diesem Grund wird psychotherapeutischen Gruppen gerade kein besonderes Tätigkeitsgebiet - Occupation, Particular Task – zugewiesen.) Zur Illustration dieses Mechanismus geben S. H. Foulkes und E. J. Anthony ("Group Psychotherapy", 1957) ein Beispiel: Sie vergleichen eine Gruppe mit Reisenden auf einem Schiff, zwischen denen durch den täglichen Ablauf eine scheinbar enge Bindung herrscht. Man lernt sich recht gut kennen, spielt Decktennis und andere Spiele miteinander, verabredet sich für den Abend, trifft sich an der Bar etc., gibt aber so gut wie nichts aus der privaten Sphäre preis. Erreicht das Schiff sein Ziel, zerstreuen sich die Reisenden in alle Winde und vergessen einander schnell. Ähnlich wirkt auch die in sich abgeschlossene Welt des Bridge: Kontakte im Spiel ja, aber keine Belastung durch die Probleme des Alltags. Für Menschen, die einerseits nicht gerne einsam sind, sich andererseits aber davor fürchten, zu sehr in die private Sphäre und die Probleme der anderen mit einbezogen zu werden, ist Bridge geradezu ideal.

Ein weiterer Anreiz des Bridge liegt in einem "Fluchtmotiv": Der Spieler begibt sich in ein abgeschlossenes Gebiet, in dem bindende Regeln eine feste Ordnung garantieren und ihn schützen. Seine Mitspieler können ihm nichts anhaben, sofern er nur die Regeln einhält, Haltung bewahrt und grobe Fehler vermeidet. Gesteckte Ziele und eine feste Ordnung wirken Angst bindend. Der Spieler kann den Frustrationen des wirklichen Lebens entrinnen und die begrenzte Welt des Spiels aufsuchen. (Parallelen zur Tierliebe in ausgeprägter Form drängen sich auf: Ein Sich-Lösen aus der unüberschaubaren Verworrenheit, den Frustrationen, Ungerechtigkeiten und Disharmonien des wirklichen Lebens durch die Flucht in die berechenbare und beglückende Zweierbeziehung Mensch - Tier, in der oft kleinste Handreichungen des Menschen durch das Tier unmittelbar belohnt werden.) Hier kann er seiner Grundstimmung und seinen Begabungen entsprechend agieren. Der Aggressive kann hasardieren, seine Gegner kontrieren oder durch einen geschickten Bluff hereinzulegen versuchen; der Ästhet findet seine Freude an der auf klarer Logik aufgebauten Spieldurchführung; wer sich psychologisches Geschick zutraut, kann versuchen, aus dem Verhalten der Mitspieler Rückschlüsse zu ziehen, und der Konservative sieht sich belohnt, wenn er durch abwägendes Maßhalten Katastrophen vermeidet, in die der Hasardeur gelegentlich hineingerät. Wer Enttäuschungen im wirklichen Leben erlitten hat, kann sie durch die Suche von Erfolg am Bridge-Tisch und die dadurch verbundene Selbstbestätigung kompensieren. Während das Leben selbst oft nur eine Chance gibt, die vielleicht schon unwiderruflich verpasst ist, bringt das Spiel wieder und wieder neue Chancen. Nach Huizinga ist diese Wiederholbarkeit eine der wesentlichsten Eigenschaften des Spiels. Zur Flucht an den Bridge-Tisch verlockt auch, dass dort die Rangordnung des tatsächlichen Lebens aufgehoben ist. Wenn sich überhaupt eine neue Rangordnung bildet, richtet sie sich nach dem Maße der Geschicklichkeit der Beherrschung des Spiels.

Ein weiterer Anreiz dafür, sich Bridge als Hobby auszusuchen, ist die Spannung des Spiels. Schon die Reizung ist eine aufregende Reise ins Ungewisse, weil die Karten des Partners und der Gegner unbekannt sind. Der schließlich erreichte Kontrakt liegt fast immer im Grenzbereich zwischen Gewinn und Absturz. Hierfür sorgt die geschickt aufgebaute Skala von Gutschriften und Minuspunkten, die im Bridge dazu verlockt, auf der Jagd nach einer ansehnlichen Prämie möglichst hoch zu reizen. Weitere Spannung bringt das sog. "Verteidigende Bieten". Oft lohnt es sich, dem Gegner ein lukratives Spiel "wegzunehmen", weil die hierbei einkalkulierte eigene Niederlage wegen der verhältnismäßig erträglichen Minusanschrift nicht so schwer wiegt wie die vom Gegner anvisierte Prämie.

Kontrakte im Grenzbereich sind viel spannender als klar gewonnene Spiele; denn bereits kleinste Fehler oder Ungenauigkeiten können über Sieg oder Niederlage entscheiden. Noch spannender wird die Sache im Paarturnier, weil hier selbst bei den gelegentlich vorkommenden klar gewonnenen Spielen die Anzahl der erzielten Überstiche entscheidend für ein gutes oder schlechtes Resultat ist. Auch ein begeisterter Skat- oder Doppelkopffreund wird zugeben müssen, dass sich bei diesen beiden Spielen nicht so viele aufregende Grenzsituationen wie beim Bridge ergeben.


Überschauen wir noch einmal in wenigen Worten, was den Menschen dazu bringen kann, Bridge zu spielen: Er begibt sich - bisweilen wie auf einer Flucht vor dem wirklichen Leben - vorübergehend in ein abgegrenztes Tätigkeitsfeld, das ihm Gelegenheit zur Selbstverwirklichung (freies Agieren - eingeschränkt nur durch verbindliche Regeln - und Stärkung der Individualität durch Lust bringenden Erfolg) und zur Anknüpfung menschlicher Kontakte (Zusammensein mit "Gleichgesinnten", Transparentwerden der Charaktere der Mitspieler, Aufbau von Partnerschaftsbindungen, Flucht vor der Einsamkeit) gibt, wobei das dem Bridge innewohnende besondere Spannungselement einen zusätzlichen Reiz ausübt.


Einer Reihe von deutschen Turnierspielern habe ich die Frage gestellt, warum sie Bridge spielen. Viele haben mir schlicht erklärt, sie wüssten es nicht und auf diese Frage gäbe es im Grunde keine Antwort. Über ein Dutzend hat mir trotzdem geschrieben. Hier das zum Teil geringfügig gekürzte Ergebnis.

Frau Cullmann erinnert sich: "ln meinem Elternhaus herrschten strenge Sitten, und das Kartenspiel war nicht beliebt, da mein Vater als Landgerichtspräsident nichts davon hielt. Nur meine Großmutter schätzte Karten sehr, und die Kinder durften gelegentlich bei Whist-Partien bei ihr aushelfen."

Auch bei Dirik Baron von Rummell ein Blick zurück: "So wie es zwischen 7 und 14 Jahren faszinierend für mich war, auf den Spuren Winnetous und Old Shatterhands die Feinde mehr durch List als durch Gewalt zu überwinden, macht es mir heute Spass, auf den Spuren Forquets und Belladonnas die Gegner am Bridge-Tisch durch Ausschöpfung aller technischen und psychologischen Möglichkeiten zu besiegen." Also Fortsetzung des siegreichen Indianerspiels mit verfeinerten Mitteln.

Schon früh hat von Gynz Blut geleckt: "Als ich noch klein war, sah ich des öfteren bei meinem Pappi ansonsten ehrwürdige Herrschaften sich beim Kartenspiel ereifern. Ich wollte hinter das Geheimnis dieser bunten Papierstückchen kommen. Erklären konnte und wollte es mir niemand. Sie waren alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Dank meiner angeborenen Hartnäckigkeit kam ich allmählich dennoch dahinter. Eines Tages nun verspätete sich der vierte Mann zum häuslichen Bridge. Ich erbot mich, solange einzuspringen. Als Gastgeber war mein Pappi bereit, dieses Kreuz auf sich zu nehmen. Die anderen glaubten, sie hätten leichtes Spiel mit mir, ich aber gab Kontra und sie stürzten fürchterlich. Dieses gefiel mir so gut, dass ich beschloss, beim Bridge zu bleiben."

Gewinnen ist also schön, besonders wenn sich würdige Menschen über den Verlust aufregen. Fast wie Schachweltmeister Bobby Fischer ("Am meisten liebe ich beim Schach den Augenblick, in dem das Ego des Gegners zusammenbricht") denkt der Rubber-Bridge-Fan Heribert Sträter: "Am liebsten spiele ich Rubber-Bridge. Je höher der Einsatz, desto besser. (Look after the pounds, and the pennies will look after themselves.) Warum ich es spiele? Schwer zu sagen; vielleicht weil ich die Gegner gern unter Druck setze und weil ich gerne gewinne. Danach kommt Teamturnier; das liegt daran, dass ich gegen einen bestimmten Gegner gern mehr als nur ein paar Hände spiele. Hier gilt das gleiche: Ein und derselbe Gegner wird ständig unter Druck gesetzt."

Auch Dr. Pressburger gewinnt gern, aber in reiferen Jahren ist er milder geworden: "Warum ich (noch immer) Bridge spiele? Als ganz junger Spieler hätte ich die Aussage auf diese Frage verweigern müssen, um mich nicht selbst zu belasten: Ich wollte nämlich gewinnen, gewinnen, gewinnen und beweisen, wie gut ich's konnte. In späteren Jahren, nach mehreren, längeren und erzwungenen Pausen, faszinierte mich die Vielfalt der Aufgaben, die in unserem Spiel und Sport zu lösen sind, und heute, nahe dem Ende meiner Laufbahn, in der ich wahrscheinlich schon jeden Coup, der bekannt ist, durchexerziert habe, warte ich auf neue Entdeckungen: Denn diese scheinen noch immer möglich zu sein - und wenn dies vorkommt, entschädigt die Freude des Gelingens für so manches, das mir (wie jedem anderen) im Stress der heutigen Zeit widerfährt. Fazit: Ausgleichsbetätigung."

Dass sich auch der Turnierspieler - anders als Huizinga meint - wie ein Kind über Bridge freuen kann, bringt Dieter Zenz zum Ausdruck: "Trotz Aufwertung zum Turnierwettkampf, Spiel bleibt Spiel und Kind bleibt Kind, trotz grauer Haare. Bridge ist nicht nur Turnierwettkampf, nicht nur Spiel, sondern darüber hinaus Magie. Ich bin ein Opfer dieser Magie. Last not least ist Bridge neben dem Schach ein echter Sport, aber ein Sport höchster körperlicher Bequemlichkeit. Wir werden alle älter und möchten doch so gerne echte und aktive Sportler bleiben."

Ein wenig Magie sieht auch Leo Selinger im Bridge, der mehr dem Instinkt als der Logik vertraut: "Bridge ist ein Spiel, in dem der Instinkt für die richtige Karte oder die richtige Reizung oft entscheidender ist als rationale Überlegungen oder Regeln der Logik. Ich glaube, diesen Instinkt in höherem Maße als die meisten anderen Spieler zu besitzen. Ich brauche es als Bestätigung meiner selbst, mich immer wieder zu testen, indem ich mich mit anderen am Bridge-Tisch messe. Außerdem hatte ich in meiner langjährigen Praxis noch nie zweimal dieselbe Hand - die Variationsbreite unseres Spiels ist faszinierend."

Josef Weiss sieht u. a. auch den gesellschaftlichen Aspekt des Bridge: "Warum ich Bridge spiele? Ganz einfach, weil es mir von allen Spielen, die ich kenne, am besten gefällt. Es gibt für mich keine schönere Zerstreuung als eine lustige freie Partie und keinen härteren geistigen Wettkampf als ein gut besetztes großes Turnier oder ein Länderkampf. Und im Alter - das ist der soziologische Aspekt – kann Bridge immer mehr zum Lebensinhalt werden. Dazu kommt der gesellschaftliche Aspekt. Auf der ganzen Welt wird Bridge gespielt, man findet also überall sofort Anschluss, was man - wenn man sich im Ausland aufhält - nicht hoch genug einschätzen kann."

Ähnlich Bernhard Sträter: "lch spiele gerne Bridge, weil dabei Sport und Spiel eine reizvolle Einheit finden. Der (gesunde) sportliche Ehrgeiz wird durch den Turniersport angeregt; außerdem ist das Spiel kompliziert, so dass es nie langweilig wird. Nicht zuletzt ist Bridge auch deshalb schön, weil es eine Freizeitbeschäftigung ist, die nur mit anderen zusammen ausgeübt werden kann."

Bei Dr. Korsing ist es die Flucht aus dem Alltag in den geliebten Geistessport: "Wichtig ist, dass man sich neben seinem Beruf auch in seinen Mußestunden sportlich und geistig betätigt. Sportlich habe ich mich für Tennis, Ski und Golf entschieden und geistig für Bridge. Bridge ist das Spiel der ungeahnten Möglichkeiten - mit keinem anderen Spiel vergleichbar. Es ist unterhaltsam, geistreich und so faszinierend, dass man alle Sorgen und Aufregungen des Alltags vergisst. Bridge bringt viel Freude und viele Freunde. Ich liebe es."

Auch für seinen Partner Rachwalski ist Bridge die Dame seines Herzens: "Warum spielen Sie Bridge? Nun, die Antwort ist einfach: Weil Bridge genauso faszinierend ist wie eine schöne Frau. Die ärgerlichen Stunden mit ihr vergisst man schnell, aber an Momente des höchsten Glücks erinnert man sich gern. Also liebt man sie und bleibt ihr treu."

Zwischen Sex und Rauschgift hin- und her gerissen Dr. von Holtzer: "Leider bin ich nach 19 Jahren noch nicht dahinter gekommen, warum ich Bridge spiele. Es muss eine Art Sucht sein, wie z. B. Haschisch-Rauchen. Sonst kann ich mir nicht vorstellen, warum man sich so etwas antut. Die Turniere: An einem Wochenende 1000 km oder mehr zu fahren, um am Montag erschöpft, entnervt, verärgert und um ein paar Club- oder Masterpunkte reicher, dafür mit leerem Geldbeutel zum Ausgangspunkt zurückkehren. Bei mir persönlich liegt noch ein anderer Grund vor. Als Somerset Maugham einmal gefragt wurde, was er an diesem Tag tun werde, hat er geantwortet: 'Bei so einem Regen kann man nur zwei Sachen tun, und ich spiele kein Bridge.' Ich war lange Zeit ledig, bedauerlicherweise dringt meine strahlende Schönheit nur ins Bewusstsein eines sorgfältigen Betrachters. So musste ich für regnerische Tage eine Alternative suchen."

Ganz dem Rauschgift verfallen Fritz Chodziesner: "Warum ich Bridge spiele? Es scheint mir, dass die Frage vom Ursprung her nicht stimmt. Frag' den Rauschgiftsüchtigen, warum er Rauschgift nimmt!"

Last, but not least, Egmont von Dewitz getreu dem richterlichen Grundsatz "Ne ultra petita", also nicht mehr zu entscheiden, als verlangt ist: "lch spiele Bridge, weil es mir Freude macht. Warum dem so ist, ist nicht gefragt."